Leseprobe: Der Spieler

Leseprobe aus dem Groschenroman DER SPIELER von Daniel Malheur

BLACKOUT
oder Der erste Tango in Paris (1908)

An die Zeit an der Großherzoglichen Musikschule habe ich wenig Erinnerung, es kann so aufregend nicht gewesen sein, als dass sie es wert wären, hier Erwähnung zu finden. Ich war ein begabter Schüler, wurde jedoch, aufgrund meiner zum Teil unorthodoxen Herangehensweise an die Musik, des Öfteren getadelt. Trotzdem gelang es mir immer wieder, die Prüfungen zu bestehen. Auch ließ ich mir nichts zu Schulden kommen, um nicht wieder in die Enge des Hauses Von Gutenberg zurückkehren zu müssen. 1908 gewann ich einen Kompositionswettbewerb, der mir, sehr zum Stolz meiner Eltern, ein einjähriges Gaststipendium am Conservatoire de musique et de déclamation in Paris ermöglichte. Mein Vater gewährte mir zusätzlich eine kleine monatliche Apanage und ich demenagierte im Alter von zwanzig Jahren in Frankreichs Metropole.

Hier stieß ich zum ersten Male seit meiner frühesten Kindheit wieder auf das wahre Leben. Paris und speziell der Montmartre über den Dächern der Stadt, mit seinen erotischen Tanzlokalen, Bordellen und Künstlern zog mich in seinen Bann. Hier tummelten sich Maler, Literaten und Musiker zwischen Grisetten, Gigoletten und Arbeitern im Schatten der Mauern von Sacre Cœur, der Basilika, die sich nun schon seit 33 Jahren im Bau befand. Sie lebten das freie Leben der Bohème, welches ich bisher nicht kennengelernt hatte. Hier sah ich in Gedanken meinen Großvater an der Staffelei vor einem der Straßencafés stehen und eine der posierenden Dirnen malen… Schon wenige Wochen nach meiner Ankunft fing ich an, mein Studium zu vernachlässigen, und mich stattdessen dieser mir neuen Lebenslust hinzugeben. Zu meiner Überraschung störte ich mich kaum an den ärmlichen Verhältnissen der Gegend, dem Dreck auf den Straßen und dem oft recht rüden Umgangston, in dem man hier zu kommunizieren pflegte. Im Gegenteil, ich fühlte mich wohl. Es war kein Aufbegehren meinerseits gegen die Verhältnisse, meine Familie oder Ihr Leben. Nein, vielmehr spürte ich immer mehr eine nie zuvor empfundene, innere Überzeugung, mich in der „richtigen“ Gesellschaft zu befinden. Als wäre ich nicht der Spross meiner Eltern, sondern eher ein Kind der Straße. Auf dem Markt stutzte ich und blieb stehen, wenn mir der Geruch beträchtlicher Berge von Fisch- und Fleischabfällen in die Nase zog, und nie zuvor erlebte Assoziationen aus den Tiefen meiner Erinnerung herauf beschwor. Ich war irritiert und zugleich auch beglückt, und beschloss, diesem Gefühl nachzugeben.

Meinen Eltern schickte ich Ansichtskarten vom Eifelturm, Notre Dame und dem Arc de Triomphe und schrieb Briefe, in denen ich von dem Kompositionskurs schwärmte, den ich auch regelmäßig besuchte. Alle weiteren Kursangebote des Konservatoriums jedoch, schlug ich aus, und genoss stattdessen meine neue Freiheit. Ich wohnte unweit des Moulin Rouge auf dem Boulevard de Clichy in einer kleinen Mansardenwohnung unterm Dach. Meine Nachbarn waren Künstler und Arbeiterfamilien mit unzähligen, frechen Kindern aller Alltagsklassen. Von Ihnen schnappte ich schnell die nötigen Redewendungen und Vokabeln auf, die ich hier brauchte, um nicht durch mein gestelztes Schulfranzösisch aufzufallen. Ich spazierte stundenlang durch die Gassen und gesellte mich zu den Straßengauklern oder setzte mich auf eine der vielen Treppen, die den Montmartre hinauf und wieder hinab führten, um den Sonnenuntergang bei einer Flasche Rotwein zu genießen. Zu späterer Stunde begab ich mich ins Moulin Rouge, oder verkehrte im Lapin Agile, wo ich die Bekanntschaft des damals noch unbekannten Malers Pablo Picasso machte, der ebenfalls im Viertel lebte. Am eindrücklichsten aber, blieb mir ein Besuch im Cabaret de Néant in Erinnerung. Es war ein sehr obskures Etablissement, welches in der Ausgabe von Baedekers Paris  unter der Kategorie „Cabarets Artistiques“ aufgeführt, und in dem der Tod zum Amüsement erhoben wurde. Von einem Mönch beim Eintritt empfangen, wurde ich durch eine dunkle Halle in einen gewölbeartigen Schankraum geführt, wo die Kellner, als Leichenbestatter gekleidet, den Gästen unter Kronleuchtern aus menschlichen Knochen, Drinks servierten. Leichengeruch lag in der Luft, während ich an einem der Särge, die als Tische dienten, Platz nahm. Die Wände waren mit Gemälden von französischen Persönlichkeiten behängt, die sich, je nach meiner Perspektive der Betrachtung in Leichname zu verwandeln mochten, eine filigrane Technik der Gemäldekunst, die hier eindrucksvoll zur Schau gestellt wurde. Das Programm bestand aus Zaubertricks, in denen ein Gast eingeladen wurde, einen aufrecht stehenden Sarg zu betreten. Der Freiwillige wurde anschließend in ein weißes Leichentuch gehüllt und in ein Skelett verwandelt, um kurz darauf wieder in menschlicher Gestalt zu erscheinen. Es war eine visuell beeindruckende Illusion, ein Spektakel, welches seine Wirkung bei dem zum Teil recht neurotischen Publikum nicht verfehlte.

Auf dem Montmartre lauschte ich auch zum ersten Male den Klängen des argentinischen Tango, des vom Pabst verteufelten südamerikanischen Modetanzes, welcher sich gerade anschickte, die alte Welt zu erobern. Eines Abends traf ich am Place du Tertre auf den Maler Maurice Utrillo, der mich aufforderte, mit ihm Absinth zu trinken. Nach mehreren Gläsern, dieses wunderbaren Wermut, Anis und Fenchel haltigen Getränkes, welches bei unmäßigem Konsum Visionen hervorrufen konnte, beschlossen wir gemeinsam ins Cabaret des Quat’z’Arts zu gehen. Es handelte sich hierbei um ein Kabarett, wo jeden Abend Poeten, Chansonniers und außergewöhnliche Musik zu hören und zu sehen waren. An jenem Abend war dort ein Spanier namens José Sentis angekündigt, der noch nie gehörte Klänge aus den Hafenspelunken Buenos Aires zu Gehör bringen sollte. Das klang vielversprechend und so wankten wir hin. Das Cabaret war schon ansehnlich mit Bohemiens und Künstlern gefüllt. Wir setzten uns an den Tresen mit Blick auf eine kleine Bühne, auf dem sich lediglich ein Stuhl befand. Utrillo beschloss, wir würden bei Absinth bleiben und bestellte: „Deux Fée Vertes“. Ich war derart exzessives Trinken nicht gewohnt, wollte die Einladung des Malers aber nicht ausschlagen und so prostete ich ihm zu und nahm einen Schluck. Mir war, als schwänden mir die Sinne, mir wurde schwindelig und ich schloss die Augen. So ging es schon besser. Um nicht vom Hocker zu rutschen, hielt ich mich an der Theke fest, hielt den anderen Arm in die Luft, um das Gleichgewicht auszubalancieren und versuchte, nicht vom Stuhl zu fallen. Da hörte ich zunächst meinen Trinkkumpan und kurz darauf weitere Gäste in lauwarmen Applaus verfallen. „Alors Monsieur“ rief jemand in meiner Nähe und ich begann – immer noch mit geschlossenen Augen – zu grinsen und leicht zu nicken. So als würde ich mich verbeugen, um den Applaus für ein gelungenes Kunststück entgegenzunehmen.

Ein Schnauben, ähnlich dem eines Blasebalges, drang an mein Ohr, gefolgt von den ersten Tönen, welche mich auf eine Art ergriffen, wie es Musik noch nie zuvor getan hatte. Der Klang war polyphon, wie der eines Klavieres. Weniger streng glich er eher einem Accordion, wie man es in Paris an jeder Straßenecke hören konnte, jedoch irgendwie filigraner. Ich lauschte. Wie bei dem Verfahren zur Entwicklung einer Photographie zeigte sich meinem inneren Auge – erst verschwommen und dann immer klarer – ein Bild, welches sich schließlich zu bewegen begann: Ich sah mich selbst, in blutrotem Gehrock, schwarz samtenem Zylinder und verspiegeltem Monokelglas im Auge, eine Art große Spieluhr bedienen, welche auf einem fahrbaren Untergestell mit großen Speichenrädern montiert war. Gleich einem Puppentheater, bestand das Instrument aus einem Schaukasten, deren Vorderseite sich durch einen kleinen Vorhang öffnete. In den unteren Teil dieser Maschine, trieb ich mit Hilfe einer Kurbel einen nicht endenden, ca. 10 cm schmalen Streifen stockfleckigen Papiers, welcher mit den 5 Linien des mir so vertrauten Systems der Musik versehen war, und auf dessen Linien die Noten zwischen Taktstrichen, wechselnden Vorzeichen und Punktierungen nur so tanzten. Ad libitum verschwanden die Noten in dem Instrument, um an dessen gegenüber liegender Seite als gleichmäßig geschnittene, weiße Papierschlangen wieder zum Vorschein zu quellen und sich auf dem Boden zu ergießen, als wär ihre Musik im Nachhall der Töne längst vergangen. Durch den offenen Himmel des Kastens illuminierte ich mit einem gebündelten Lichtstrahl, welcher meinem verspiegelten Monokel entsprang, die kleine Bühne, auf der nun ein winziges Tanzpaar lebendig wurde. Grazil begann es, sich im Schein des Lichtes zu den ruckartigen Melodien, zu bewegen. Der Mann führte seine Dame über das glänzende Parkett, drehte sie hin und her, hob sie in die Lüfte, ließ sie zu Boden gleiten, um sie gleich darauf wieder fest in seinen Arm herauf zu ziehen, während Sie schlangengleich mal das eine, mal das andere Bein nach hinten, in die Lüfte, an sein Ohr oder aber um seine Taille schnellen ließ. Geschmeidig glitten sie dahin, ohne sich wirklich eines Blickes zu würdigen, sondern stets unterkühlt, ja fasst arrogant zu Boden blickend, während der Rest ihrer beiden Körper eine ganz andere, höchst erotische Sprache zelebrierten. Das Ganze erzeugte aufwühlende Emotionen in mir, und brachte meinen Herzschlag durcheinander, dem es nicht gelingen wollte, dem 4/8 Takt der Musik zu folgen. Ich verspürte den Sog, der mich auf die Bühne des Puppentheaters zog, welches nun wiederum, wie beim Aufpumpen des Schlauchs eines Velocipedes größer und größer vor meinen geschlossenen Lidern zu wachsen schien. Ich wollte mir selbst die Kurbel der Spieluhr, deren Länge inzwischen zu mehr als einem Meter angewachsen war, aus der Hand reißen, um mich mit dem ganzen Gewicht meines Körpers auf sie herauf zu schwingen, damit dieses Treiben kein Ende fände. Mein Atem ging stoßweise und Hitzewallungen durchfuhren meinen Körper. Ich beugte mich vor, um den hölzernen Griff der Kurbel zu erklimmen und sprang… Ich stürzte von meinem Stuhl an der Theke und schlug hart mit dem Gesicht auf den Steinboden auf und hörte noch Applaus, bevor mir, schwarz vor Augen, endgültig die Sinne schwanden.

Am darauf folgenden Mittag erwachte ich mit zermürbendem Schädelbrummen. Mein Gesicht schmerzte und ich konnte meine Augenlieder kaum heben. Ich lag in Hemd und Hose auf einem Bett, über mir erblickte ich verschwommen den mir vertrauten Wasserfleck an der Decke. Ich war zu Hause. Wie war ich dorthin gelangt? Ich war mit Utrillo ins Cabaret des Quat’z’Arts gegangen, um Musik aus Buenos Aires zu hören… Ich hatte einen Blackout und konnte mich an nichts erinnern, außer an die unglaublichen Klänge der Musik und an unzählige Augenpaare, die – über mich gebeugt – verschwommen vor mir erschienen… Da drang das Klappern einer Tasse, die unachtsam auf ihren Unterteller gestellt wurde, an mein Ohr. Ich riss den Kopf herum und sogleich schoss mir ein übler Schmerz zwischen die Augen bis hoch ins Gehirn. Ich stöhnte auf und erblickte Utrillo, der im Zimmer vor seiner Staffelei stand und, mit einer Hand die Tasse balancierend, mich spitzbübisch angrinste: „Alors, mon copain, c`etait une nuit d´inspiration!“ Er reichte mir den Café und wies auf sein Bild. „Ich habe Dich gezeichnet. Mal eine andere Scène vom Montmartre…“ Utrillo mahlte zumeist Straßenszenen, dieses Bild jedoch zeigte einen Mann, alle Viere von sich gestreckt, bäuchlings am Boden liegend, umringt von einer Menschenmenge, die sich zu ihm hinunterbeugt. Le premier Tango a Paris, Maurice Utrillo 1908.

Noch oft gingen wir gemeinsam ins Cabaret des Quat’z’Arts, um den argentinischen Klängen zu lauschen. Ich fing an, statt des sonst klassischen Repertoires eigene Tangos zu Papier zu bringen, was bei meinem Professor am Konservatorium aber keinen Anklang fand. Auch bei den Gesellschaften meiner Eltern würden sie, wie ich nur zu gut wusste, auf keine Gegenliebe stoßen. Meine Mutter Elisabeth schwärmte für den kaiserlichen Walzer und Vater Theodor erwartete als „Mann der Armee“ Marschmusik. So spielten diese ersten meiner tangoesken Werke zunächst also nur in den abgelegenen Gefilden meiner Fantasie… (Copyright 2020 D. Neubauer)

DER SPIELER, die Autobiographie des britischen Komponisten Charles T. Goodhill erscheint vorraussichtlich im Laufe des Jahres 2023. Werden Sie Retter und bestellen Sie den Roman kostenpflichtig vor. Sie erhalten einen Gutschein, der Ihnen die kostenlose Zusendung eines Exemplares garantiert, sobald der Groschenroman erscheint. Unverbindliche Vorbestellung per mail nehmen wir gern entgegen…